Seit September heißt die ehemalige Erstaufnahmeeinrichtung in Dresden offiziell „Ankerzentrum“. Der Sächsische Flüchtlingsrat berichtet über die Situation dort. Vorweg: das, was sächsische Erstaufnahmeeinrichtungen schlussendlich wirklich zu Lagern werden lässt, ist nicht nur der Begriff „Ankerzentrum“.
Seit September trägt die ehemalige Erstaufnahmeeinrichtung an der Hamburger Straße nun den Kampfbegriff aus dem Bundesinnenministerium. Damit sollen die „Verfahren beschleunigt“ werden.
Dafür will man mehr Behörden direkt am Zentrum ansiedeln. In unmittelbarer Nähe gibt es bereits eine Unterkunft aus Leichtbauhallen an der Bremer Straße. Dort sind bereits das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) und das Gesundheitsamt tätig. Neben den drei genannten Behörden soll zukünftig außerdem die Bundespolizei vor Ort sein, genauso wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
„Rückkehrberatung“ vor dem Asylverfahren?
Von einer fairen und unabhängigen Verfahrensberatung kann jedoch keine Rede sein. Bereits am Anfang des Asylverfahrens soll es vielmehr eine erste „Rückkehrberatung“ geben, während des Verfahrens folgt eine weitere. Rückkehrberatung setzt Menschen von Beginn an unter Druck. Über Fluchtgründe zu sprechen, kann häufig aber nur in einem sicheren Umfeld, in Ruhe und gegenüber einer Person des Vertrauens gelingen. Das Risiko von Re-Traumatisierungen steigt.
Besonders Schutzbedürftige fallen durchs Raster
Auch Flüchtlinge mit besonderem Schutzbedarf, wie psychisch erkrankte Menschen oder Opfer von Menschenhandel und Folter werden im Ankerzentrum untergebracht, denn ihre Schutzbedürftigkeit wird nicht systematisch erkannt. Zwar gibt das CDU-geführte Innenministerium an, dass eine systematische Prüfung der Schutzbedürftigkeit stattfände (vgl. Drs. 6/12956), doch lässt sich aus der praktischen Beratungserfahrung in Sachsen sagen, dass dem nicht so ist. Nicht eine besondere Schutzbedürftigkeit ist maßgeblich für die Dauer des Aufenthalts im Lager, sondern die unterstellte Bleibeperspektive.
Der wenige Freiraum, das wenige Geld und die Sorge um eine mögliche Abschiebung führt unter anderem zu den Auseinandersetzungen.
Mangelnder Gewaltschutz
Dem Sächsischen Flüchtlingsrat (SFR) werden immer wieder Beschwerden von Bewohner*innen aus einzelnen der neun Standorte sächsischer Erstaufnahmeeinrichtungen herangetragen. Seit über zwei Jahren häufen sich Berichte, auch von Medien. Im Mai und Juni eskalierte die Gewalt auf der Hamburger und Bremer Straße, die Reaktion der Behörden: Umverteilung, Videoüberwachung, aufgestocktes Wachpersonal.
Dass es seither dennoch immer wieder zu Gewalt kommt, überrascht nicht. Zuletzt erklärte selbst die Dresdner Polizei gegenüber der Sächsischen Zeitung: „Der wenige Freiraum, das wenige Geld und die Sorge um eine mögliche Abschiebung führt unter anderem zu den Auseinandersetzungen.“ (vgl. Sächsische Zeitung vom 16.10.18).
Weitere Ursachen, zumindest in den Dresdner Erstaufnahmeeinrichtungen: unhygienische Zustände, nicht abschließbare Sanitärräume, die sich teilweise auf dem Hof der Hamburger Straße befinden, die Tatsache, dass Menschen vorgeschrieben wird, wann und was sie zu essen haben, unangekündigte Zimmerkontrollen, bei denen die Security die Sozialarbeiter*innen begleitet (im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshof, der auch Zimmer in Sammelunterkünften unter den Schutz von Art. 13 GG zählt) – all das kommt auf der Hamburger Straße vor und trägt dazu bei, dass der Einzelfall, der Mensch, im Lager verschwindet, sich vielfältige Täter*innen- und Opferkonstellationen ergeben und ein von Abhängigkeiten geprägtes, unsicheres Leben von den politisch Verantwortlichen herbeigeführt wird.
Die Umsetzung des § 47 Abs. 1b AsylG im Sächsischen Flüchtlingsaufnahmegesetz
Momentan befindet sich im Sächsischen Landtag ein Gesetzesentwurf der Staatsregierung, der vorsieht, den § 47 Abs. 1b AsylG im Sächsischen Flüchtlingsaufnahmegesetz anzuwenden. Demnach werden Menschen im Asylverfahren aus Staaten, bei denen die bundesweite Schutzquote bei von dort kommenden Asylantragsteller*innen unter 20 Prozent liegt, bis zu 24 Monate zur Wohnsitznahme in Erstaufnahmeeinrichtungen verpflichtet. Familien sollen von der Verpflichtung ausgenommen werden (vgl. Drs. 6/ 13973)
Das Problem mit der „Bleibeperspektive“
Lange Zeit im Lager zu leben soll nun mehr Menschen treffen, allerdings mit einer zweifelhaften Regelung. Denn der Begriff der Bleibeperspektive, der hier so maßgeblich über das Schicksal vieler entscheidet, der findet sich nicht in den Gesetzen. Er steht in den Gesetzesbegründungen, so auch im Sächsischen Flüchtlingsaufnahmegesetz. Die Bleibeperspektive sagt vor allem nichts über den Anteil der Menschen aus, die schlussendlich doch einen Schutzstatus in Deutschland erhalten.
Denn: diese 20 Prozent können nicht so unproblematisiert stehen bleiben. Im Flüchtlingsaufnahmegesetz wird die Bleibeperspektive durch die Gesamtschutzquote definiert, nicht durch die höhere bereinigte Schutzquote, in der beispielsweise die Dublin-Entscheidungen als unzulässig herausgerechnet sind. Auch wird nicht berücksichtigt, dass Verwaltungsgerichte nicht selten BAMF-Entscheidungen korrigieren. Bei afghanischen Asylantragsteller*innen gelang das im Jahr 2017 in 61,2 Prozent der Klageverfahren (vgl. BT-Drs. 19/1371).
Zudem liegt der Bleibeperspektive ein unlogischer Trugschluss zu Grunde. Susanne Neupert vom Leipziger Initiativkreis: Menschen.Würdig führt diesen Gedanken in der im November erscheinenden Ausgabe des Jahresmagazins „Querfeld“ des SFR aus.
„Das Konstrukt der „Bleibeperspektive“ missachtet allerdings das Prinzip, dass Korrelation (wechselseitige Zusammenhänge) nicht gleich Kausalitäten (die Richtungen der Zusammenhänge) sind. Es geht sogar noch einen Schritt weiter und stilisiert die Korrelation zwischen Herkunftsregion und Ausgang des Asylantrages zum prognostischen Modell. Für die Asylanträge neuer Personen wendet es die – unzulässig ermittelte Kausalität – an und prognostiziert anhand der Herkunftsregion eine ‚Bleibeperspektive´“.
Bedeutet auch: Menschen, die über kurz oder lang doch hier bleiben werden, werden auf Grund einer pauschalen, mathematisch unzulässigen Logik in Lagern gehalten.
Die Folgen liegen auf der Hand. Längere Aufenthaltszeiten in Lagern bedeuten mehr Schaden für die Gesundheit, von Integration kann keine Rede sein, Menschen dürfen nicht arbeiten, in Sachsen leben sie in der Peripherie der drei großen kreisfreien Städte. Perspektivlosigkeit, Frust, Aggression stellen sich ein.
Das „Ankerzentrum“ scheint einigen aber noch nicht genug der Abschreckung zu sein!
Recht auf Bildung wird verweigert
Seit 2013 ist die EU-Aufnahmerichtlinie in Kraft. Demnach müssen Kinder und Jugendliche spätestens drei Monate nach Asylantragstellung die Schule besuchen. Diese Rechtsnorm findet in Sachsen keine Anwendung. Ausgehebelt wird das nicht etwa durch ein Gesetz, sondern durch einen Brief: dass Kinder und Jugendliche in Erstaufnahmeeinrichtungen nicht die Schule besuchen dürfen, liegt an einem einfachen Schreiben des Kultusministeriums an die Direktor*innen der Regionalschulämter aus dem Jahr 2005. Die Minderjährigen seien vom Unterricht ausgenommen.
Die Zahl derer, denen das Recht auf Bildung länger als drei Monate vorenthalten wird, stieg in Sachsen vom 30. September 2017 mit 52 über den 31. März 2018 mit 58 bis zum 31. August 2018 auf 102 betroffene Minderjährige (vgl. Drs. 6/ 10831 / Drs. 6/ 12937 / 6/ 14669). Auch wenn die Gesamtzahl der Minderjährigen in Lagern in Sachsen gesunken ist: Inzwischen geht jede*r vierte Minderjährige in Erstaufnahmeeinrichtungen länger als drei Monate nicht zur Schule.
Währenddessen wird in Sachsen mittlerweile ein Curriculum getestet, welches nicht anders denn als Lagerunterricht bezeichnet werden kann. In einer „Lagerschule“ unterrichtet zu werden, verhindert dabei, dass die Kinder und Jugendlichen ein Stück normalen Alltag kennenlernen.
#NichtMeineLager
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Sachsen denkt schon weiter
Das „Ankerzentrum“ scheint einigen aber noch nicht genug der Abschreckung zu sein: Im September überlegte Innenminister Roland Wöller laut, er wolle die EU-Aufnahmerichtlinie in einer ihrer restriktivsten Formen anwenden und sich im Bundesrat dafür einsetzen, dass das Aufenthaltsrecht eine Inhaftierung während des Asylverfahrens ermögliche. Immer dann, wenn die Identität festgestellt werde. Ein in jeglicher Hinsicht unmenschlicher Vorschlag, umso mehr, wenn bedacht wird, dass neben „Anker“ und Verwaltungstrakt ein weiteres Gebäude steht: die neu etablierte Abschiebehafteinrichtung in Dresden.
Wöller und Ministerpräsident Michael Kretschmer folgen ohne zu Überlegen dem bayerischen Weg der Internierung und lassen erkennen, dass bei Form und Dimension der Internierung wie der Anzahl der betroffenen Menschen das Ende der Fahnenstange noch längst nicht erreicht ist.
Mark Gärtner, Sächsischer Flüchtlingsrat